Drei Stunden an einem Sonntagnachmittag

StanlyNFLMuenchen v2

Das ist der Titel, den John Hussey, der Referee aus dem ersten München-Spiel der NFL, seinem Buch geben wird, das er noch nicht einmal zu schreiben begonnen hat. Doch gleich im nächsten Satz macht er klar, dass es eigentlich nicht um die drei Stunden Spiel geht, sondern um die ganzen Geschichten drumherum.

Aber „first things first“! Nur wenige wussten im Vorfeld, dass ich an dem Spiel direkt beteiligt sein werde und was ich immer wieder zu hören bekam war: „Ein bisschen neidisch bin ich schon.“ Und das ist ja auch ok so. Denn wer auf diese Gelegenheit und dieses Erlebnis nicht neidisch ist, dem fehlt die Leidenschaft und Liebe zu unserem Sport. Wer jetzt allerdings erwartet, dass es von mir eine Menge Selfies mit Gott und der Welt gibt, den muss ich leider enttäuschen. Die NFL fährt in dieser Hinsicht eine sehr restriktive Politik. Mit das Erste, was wir sechs Schiedsrichter aus Deutschland bekamen, nachdem feststand, dass wir die Kette machen, war ein umfangreicher „Staff Guide“. Darin wird auch geregelt, dass nichts über die aktive Beteiligung im Vorfeld in den Medien auftauchen darf und dass Kameras, Handys und Smartwatches für uns auf dem Feld strikt verboten sind. Ihr könnt hier also nur einen verbalen Eindruck von der NFL aus einer subjektiven Sicht erwarten.

Kurz zur Vorgeschichte. Ein NFL-Mitarbeiter, welcher im Bereich der London-Spiele tätig ist, kontaktierte einen seiner ehemaligen Spieler, um deutsche Schiedsrichter, bevorzugt mit A-Lizenz, für den Job als Chaincrew zu bekommen. Dazu ging dann auch im August eine entsprechende E-Mail mit den Voraussetzungen und Anforderungen an die Obleute der Landesschiedsrichtevereinigungen. Auf meine Bewerbung folgte dann aber erstmal zwei Monate Stille und ich hatte diese Möglichkeit zum Spiel zu kommen bereits wieder abgehakt.

Dann aber kam Anfang Oktober, ich lag gerade in Ägypten am Strand, die Mail, dass ich Teil der Crew sein werde und ab da ging es los. Hotelbuchung, Staff Guide, NFL Chaincrew Mechanics, geschrieben von den Briten, dazu später noch mehr, und Videosessions zur Vorbereitung.

Was bei allen Gesprächen mit NFL-Refs, Football Operations und den Kollegen aus UK immer wieder kam: „Egal was ihr bisher gesehen habt, die NFL ist schneller“. Und ich dachte mir, na klar! Das ist das Top Prozent aus Hunderttausenden von Highschool-Footballspielern, die nochmals durchs College gesiebt wurden und sich dann noch gegen die Konkurrenz durchgesetzt haben. Auf dem Feld fällt aber nicht die Endgeschwindigkeit auf, außer bei DK Metcalf vielleicht, sondern die Reaktionsgeschwindigkeit und die Geschwindigkeit bei Richtungsänderungen. Und genau das macht es schwierig, wenn die Jungs über die Nummern nach außen kommen. Da muss man durchgehend aufmerksam sein, damit man nicht unter die Massen gerät. Vor allen Dingen dann, wenn man am Frontstick arbeitet. Da heißt es, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Zurück zum Wochenende. Wir reisten also am Samstag aus der Republik nach München an und hatten um 12:00 Uhr das erste Meeting mit der Referee-Crew im Bayerischen Hof. Dort war schon alles voll mit Security, den Tampa Bay Cheerleadern und, und, und. Überpünktlich standen wir also vor dem roten Salon, in freudiger Erwartung, was wir jetzt alles erleben dürften. Als erstes durften wir dann gleich die gesamte Crew um John Hussey und Sara vom New Yorker Organisationsbüro der NFL kennenlernen. Was zu unserer Überraschung folgte, war eine halbe Stunde lockerer Smalltalk mit uns. Übergabe der Akkreditierungen und Onfield-Bandagen an uns und Übergabe von Aufklebern der bayerischen Schiedsrichtervereinigung an die Crew.  Dann nahmen sich Down Judge Mark Hittner und Line Judge Carl Johnson unserer an. Sie versicherten sich, dass die Rollen an der Kette mit Front- und Backstick, Downboxes und Line to Gain-Marker entsprechend verteilt und besetzt waren. Wir gingen ein paar Situationen durch und besprachen Details. Hierzu zwei interessante Sachen: Die NFL arbeitet mit zwei Kettenclips. Der Vorhergehende wird immer erst entfernt, wenn nach einem neuen First Down auch gesnappt wurde. So hat man bis zur letzten Sekunde die Möglichkeit die Kette bei einem Replay wieder zurückzusetzen. Und die Clips werden immer in Spielrichtung auf die Backside der Linie gesetzt. Das hat den Vorteil, dass bei einem Measurement der rechte Winkel an der Linie leichter zu nehmen ist. Im Vorfeld wurde uns erzählt, dass die Downbox für jedes Down, Ballbesitz, Down, Distanz und Yard-Linie mitschreibt. Mark Hittner, immerhin Down Judge in drei Superbowls aber sagte: „I´m gonna retire after this season and we have replay! So don´t worry bout that! We´ll figure it out.“ Also dann doch entspannter als das andre beim London-Spiel erlebt hatten! Auch gut!

Danach dann erstmal Essen in der Innenstadt und die Atmosphäre einsaugen. Gefühlt waren schon alle 67.000 Fans, die am nächsten Tag in die Arena wollten, in der Stadt unterwegs. Am Odeonsplatz, wo die übergroßen Helme ausgestellt waren, musste man schon über eine Stunde anstehen, um im offiziellen Fanshop einzukaufen. Der war dann auch angeblich um vier Uhr nachmittags schon ausverkauft. Schön war, dass wir hier auch schon etliche bekannte Gesichter aus ganz Footballdeutschland getroffen haben und kurz plaudern konnten.

Abends dann noch kurz nach Schwabing zum Essen und dann Treffen mit unseren beiden Supervisors aus Großbritannien in der Hotelbar. Roger, „Director of Operations“, und James, „Director of Training“ der britischen Football-Schiedsrichter. Beide auch in der European League of Football aktiv. Also war Skepsis angebracht? Nein, war sie nicht! Schnell wurde klar, dass die beiden die Zebrafamilie über Ligen, Länder und Rivalitäten stellen und so wurden nur Footballgeschichten aus jüngerer und älterer Vergangenheit ausgetauscht. Damit war auch klar, die beiden waren in erster Linie zu unserer Unterstützung vor Ort, falls wir irgendwelche Schwierigkeiten hätten. Was aber zum Glück nicht der Fall war und Roger durfte in der zweiten Halbzeit zum Replay hoch.

Sonntagmorgen, überpünktlich wie immer in der Hotellobby, lernte ich dann prompt den Playclock-Operator kennen, der mich gleich dem Rest der Operationscrew vorgestellt hat. Gameclockoperator, Replay on field, Replay booth, Supervisor, usw. Fast alle aus Ohio und fast alle nebenbei noch als Schiedsrichter beim College-Football in Division 1, Big10 Conference, oder Division 2 aktiv. Wichtigste Information aus den Gesprächen zur Liga: „5 Minutes early is 10 Minutes too late!“ Die NFL legt bei Allem, was sie tut, maximalen Wert auf Pünktlichkeit. Niemand darf jemals auf Dich warten müssen.

11:00 Uhr dann aufgebrezelt mit Sakko, Hemd und Krawatte mit der U-Bahn wieder rein in die Innenstadt, dem Strom von pilgernden Fans entgegen! Brav eine halbe Stunde vor dem eigentlichen Treffpunkt wieder in der Lobby vom Bayerischen Hof. Wieder Smalltalk und Networking. „Ach ja. Ihr braucht nach dem Spiel nichts Essen. Ihr seid auf die Aftergameparty hier im Rooftop des Bayerischen Hofs eingeladen“. WOW!

Kurz vor zwölf fahren dann die fünf schwarzen Luxus-Vans mit abgedunkelten Scheiben vor. Im Konvoi Stoßstange an Stoßstange raus zur Arena. Menschenmassen ohne Ende und alle gut drauf und sich selbst am Feiern. Durch die Katakomben an den ganzen VIP-Parkplätzen vorbei direkt zum VIP-Eingang. Sicherheitscheck wie am Flughafen. Geführt von Sara durch das Gewirr an Zugangskontrollen und Security-Mitarbeitern in den eigentlichen Mixed-Bereich im Tunnel des Stadions. Schiedsrichtercrew rechts, wir links rein in unsere Kabine. Dort erwartete uns die nächste Überraschung. Winterjacke und Winterhose im NFL-Branding für jeden von uns.

Dann aber gleich mit Mark Hittner raus aufs Feld, um die Ketten zu organisieren und vorzubereiten. Ein besonderer Dank gilt hier unseren GFL-Shortwings. Der „5 macht 1“ Marker hat sogar Mark noch beeindruckt. Dann schnell noch einen von der Ground Crew mit Cuttermesser organisiert, um das Schaumstoffcover unterhalb der Fahne abzuschneiden. „Die Liga will bei einem Measurement sowas nicht in den Fernsehbildern haben.“ Eine Kette gleich rüber in die Teamzone der Seattle Seahawks, kurzer Plausch mit Markus Kuhn auf dem Weg dahin, die Ersatzkette hinter die Bande bei den Tampa Bay Buccaneers. Schnell noch Hallo zu Björn Werner, Jan Stecker, Icke Dommisch und Max Zielke die da auch schon rumturnen.

So, jetzt ein wenig Luft, um sich hier mal umzusehen. Das Feld sieht schon klasse aus. Respekt an die Ground Crew, die ja nur drei Tage Zeit hatte, den Rasen vorzubereiten. Da steht Michael Irvin, hier Kurt Warner, Sarah Walsh vom US-Sender FOX lässt sich noch mal Makeup und Haare richten. Hat schon was. Zurück in den Tunnel und umziehen. Nochmal schnell raus ins Eck bei den Seahawks, kurz mit Zebragroupie Chris Wess fürs Selfie posieren. 

Zum offiziellen Warmup der Teams durften wir dann wieder mit aufs Feld. Mark ist wieder mehr als zufrieden, dass wir alles perfekt vorbereitet haben. So soll das sein. Erwartungen möglichst übererfüllen. Die Teams wärmen sich auf und das Stadion ist bis auf die VIP-Tribüne schon voll. Wir entscheiden, dass wir gleich draußen bleiben und uns die Pregameshow geben. Cro macht das nicht einmal schlecht. Dann der Einlauf der Teams und das Stadion kocht. Erster Gänsehautmoment des Abends die amerikanische Nationalhymne interpretiert von Sgt. Melody Salter. Sophia, wer ist das denn?, lehnt sich bei ihrer Interpretation der Deutschen Hymne an die US-Hymne an. Respekt. Allerdings hat sie auch tatsächlich die Unterstützung von knapp 67.000 Fans, die hier bereits mitsingen.

Drei Stunden an einem Sonntagnachmittag. „Just another Footballgame!“ Die Jungs sind etwas größer und athletischer. Pete Caroll nervt. Der steht ständig im Weg und steigt auf die Kette. Wie soll man hier arbeiten? Das Beste sind die Werbepausen. Gefühlt hat man als Kette alle Zeit der Welt um wieder richtig zu stehen. Kurzer Plausch mit Aaron Donkor, hier schnell mal DK Metcalf einen Spruch reingedrückt. Alle sind supernett zu uns. Quarterwechsel funktioniert auch als hätten wir Ahnung von dem, was wir da machen. Mit dem 2-Minute Warning kommt Mark nochmal zu uns. „Now you gotta hustle. Stay focused!“

Halbzeit. Kette noch schnell auf die Seite von Tampa, an die 20 und kurz in die Kabine. In zwölf Minuten wird zur zweiten Halbzeit gekickt. Rein in den Tunnel, etwas trinken, Pipibox und wieder raus. Sarah Walsh noch schnell von der abgelegten Kette verjagen.  Drittes Quarter. Tampa Bay liegt mit 14:0 in Führung, ist mega diszipliniert und entspannt. Ein paar Worte mit Julio Jones gewechselt, dass er besser noch die 11 tragen würde, aber sein Touchdown freut mich. Vita Vea neben einem ist beeindruckend, aber nett, wenn er nicht gerade Quarterbacks jagt. Mike Evans ist auch größer, als er im Fernsehen wirkt. Bei den Cornerbacks haben die ja noch richtige Kinder dabei. Es geht ins letzte Viertel. Ach komm, das sieht man doch, dass der zu kurz war. Tom Brady will aber das Measurement. Und wenn er das will, dann bekommt er es auch.

Werbepause und Gänsehautmoment Nummer zwei. John Denvers Country Roads aus 67.000 Kehlen mit tausenden Handylichtern. Beeindruckend! Für ALLE! Selbst John Hussey erzählte mir später, dass er sich hier einen Moment nehmen musste, um das in sich aufzusaugen.

Was macht Tom Brady denn da? Hat er nicht gemacht!? Zwei Flaggen von FJ und BJ. Packt der doch tatsächlich die Schere aus. Mildes Lächeln an der Sideline von Todd Bowles. „Geh ihm jetzt besser aus dem Weg.“ That´s the Ballgame.

Schnell die Kette aufräumen. Die mitgebrachten Clips wieder einsammeln und zurück in die Kabine. War das ein Erlebnis! Adrenalin und Euphorie pumpen noch ein wenig. Dusche funktioniert nicht. Also erledigen wir das im Hotel und können unser Zeug dann wenigstens gleich vernünftig deponieren. Zurück zum Bayerischen Hof wieder in unseren schicken, schwarzen Vans. Ab in die U-Bahn, raus zum Hotel, kurz aufs Zimmer und dann zurück zum Marienplatz.

Rauf in die Rooftop Bar vom Bayerischen Hof mit bayerischem Buffet. Ein paar Tipps für die amerikanischen Gäste, was man unbedingt probieren sollte. Als einziger „Bavarian Native“ in der Crew ist meine Expertise hier natürlich sehr gefragt. Ansonsten gilt: What happens in Rooftop, stays in Rooftop! Nur so viel dazu. NFL-Commissioner Roger Goodell war da und wird die bayerischen Schiedsrichter gerne unterstützen, Sebastian Vollmer weiß um die Wichtigkeit der Jugendarbeit, mit John Hussey eine Zigarre rauchen und sich Geschichten zu erzählen ist ein Vergnügen und ich kenne jetzt die Lebensgeschichte von Sara und ihrem Mann.